Rede für Karel Schwarzenberg
Jiří Gruša
Genau vor zwanzig Jahren durfte ich endlich nach Prag und fuhr über Scheinfeld. Die Uradresse der Schwarzenbergs. Es war kein Zufall, hier nämlich residierte das Dokumentationszentrum zur Förderung der unabhängigen tschechoslowakischen Literatur. Es sammelte Texte, um einen Kontext zu bekommen. Karel zu Schwarzenberg, der Burgherr ließ Räume einrichten, in denen die Samizdat-Bücher gelagert und in einem kleinen Verlag weiterverbreitet wurden.
Hier – und das scheint mir heute die Leistung zu sein – änderte man aber auch geistige Koordinaten. Die historische Rückschau wurde entideologisiert, Stereotypen hat man abgebaut und die Perspektiven internationalisiert. Es ging also mehr um eine Architektur- als um eine Archivarbeit.
Hier wurde keine übliche Identitätsfrage gestellt, nämlich: welche Differenz zu predigen ist. Keine provinziell prophetische Klaustrophobie als Platzangst gezüchtet. Keine Lobhymnen auf den eigenen Käfig, in dem die Papageien ihre Souveränität nie verlieren. Hier wollte man Zpátky do Evropy - „Zurück nach Europa“, wohl wissend, das dieses alle befreit, selbst diejenigen, die es gespalten haben.
In Scheinfeld pochte man nicht auf das Bittere, als wäre es eine Gabe. Hier wurde der Groll beseitigt, den der alte Nationalismus so lange gezüchtet hatte. Es war die erste EU-Adresse der Tschechen, an der man nicht aus den alten polemischen Quellen schöpfen wollte, sondern die neue Mündigkeit pflegte. Als hätte man gewusst, dass jedes "Ich" der Nation ein heikles Vehikel repräsentiert und dass die Ära, die wir betreten, eine ungeahnt postnationale Dimension trägt. Und dass man auf jenem Marktplatz des Weltdorfes, das sich am Horizont zeigte, andere Regeln herrschen müssen als die in dem böhmischen.
Die Freiheit als Machtkategorie des Individuums wurde gesucht. Und Europa als ihr politisches Zuhause. Dabei wurde uns klar, dass die Wessis uns kaum kennen, geschweige denn wahr nehmen. Eher galten wir als Störer der Annäherung an das Existierende, an den status quo auch ethisch moralisch. Man hat das Bipolare innerlich mehr respektiert als uns lieb war. Nicaragua lag näher als Prag oder Budapest. So dass man die bereits nicht leisen Anzeichen der östlichen Implosion falsch interpretierte. Und den multinationalen Demos der mitteleuropäischen Demokratie: ungarisch, polnisch, tschechisch, slowakisch und ostdeutsch, nur in dem lokalen Kontext verstehen wollte..
Dabei ging es das erste Mal auf diesem Kontinent um eine Bewegung der Völker, die nicht nur Wiedervereinigungen oder Trennungen betrieben haben, nicht nur um ein nation and state building, wie das der heutige Politjargon bezeichnet, sondern um das erste Erscheinen eines multinationalen Demos der Demokratie, der Europa bislang am radikalsten veränderte. .
Die Mitteleuropäer haben den gemeinsamen Nenner gesucht und gefunden. Dabei waren Adressen wie Scheinfeld für alle vital, weil sie spontan an einem common sense interessiert waren und aus ihm heraus agierten. Die bisherigen Konzepte notierten nämlich die eigenen Taten, nicht die Untaten. Das Erlittene sollte zur Korrektur mobilisieren etc. Zur geschichtlichen Vergeltung. Darum war unsere Geschichte keine Schönheit, hasst sie die Spiegel von draußen und die Prinzen der Klugheit hüben wie drüben.
Identitäten sind Denkmalallüren. Das selektive Erinnern ist alles. Die Muster der Großeltern suchen nach Enkelkindern. Falls die Kinder die Qualen der Ära noch in den Knochen tragen. Man kann sich wie die Tschechen und Slowaken bei der Trennung einigen oder serbokroatisch sich trennen durch Feindschaft.
Unsere Familienalben sind voll gestopft mit konträren Bildern. Müsste also eine europäische Identität mit dem Vergessen anfangen - oder mit einem sehr kultivierten Erinnern?
In Scheinfeld hat man die Modelle der Milde getestet, wohl wissend, dass sie fragil sind. Am fragilsten im Stadium des Aufbaues. Es ist einfacher, im Namen der X- Sache das Bittere mehr als das Süße zu praktizieren, wie das neueste Prager Pragma zeigt.
Wir Europäer haben erst nach zwei Katastrophen die Kooperation gesucht. Nachdem das Bipolare zusammengebrochen war, als dumme Zweiwertigkeit, brachten wir Polyvalenz. Daran arbeiten wir bis heute.
Die Integration hat es mit uns nicht leicht. Sie muss das Integral entdecken - und dieses wird noch immer als numerus clausus missverstanden. Nur so konnte ein Land, das 1989 Europa bejubelte, heute als respublica clausura agieren und so viel Stuss reden.
Der Zerfall des Kommunismus war nämlich auch ein Zusammenbruch einer Union. Sie wollte das Gute - als das erkannte Ziel der Geschichte. Zart wissenschaftlich verkleidet - gerecht umverteilt durch eine Nomenklatur von Wissenden. Gab vor, einen Plan zu haben. Doch dieser wirkte wie ein Holzwurm im Möbelmagazin, der alles frisst, ohne Umzugschancen.
Sie handelte nach der erwähnten Methode der Alteuropäer: imperial, national, historisch begründet und heroisch entfesselt.
Alle Völker unseres Kontinents haben mehr oder weniger diese Quadriga gefahren. Alle waren dabei, die Idee der Menschenrechte dem Begriff der Nation unterzuordnen. Ja vor siebzig Jahren beinahe abgeschafft. Erst dann und nur westwärts waren wir fähig, uns auf den Marktplatz des Präsens zu konzentrieren. Auf dass Messbare, Vergleichbare.
Also auf ein Europa aller Europäer. Dieses Konzept setzte nicht mehr auf das Heil der Träger eines wahres Seins. Es vertagte die Sinn-Frage in das Private – betrieb kein "Euangelion", sondern wollte eine praktische EU. Ein Europa endlich integrativ.
Erst als Verlierer waren wir Sieger. Erst die "Abkehr" von der Geschichte machte uns zur Story. Und wir haben sogar die restlichen Mauern zu Fall gebracht. Dieses Ende der bipolaren Welt hat jedoch auch paradoxe Züge. Viele tragen noch ein altes Kampfgerüst mehr als zivile Kleider und einige – die gefährlicheren – das Zivile als Rüstung. Sie reden über die Kleinen, die von den Großen gefressen werden könnten, als wäre Brüssel kannibalisch und Prag das Mekka der Vegetarier.
So kommt die Maxime in Verruf, die so viel Schöpferisches nach sich zog: jeder von uns ist nur anders klein.
Wir hören also wieder prophetische Parolen und vergessen, dass unser neues Jetzt technologisch agiert. Und eine Herausforderung bedeutet, über die "Nützlichkeit" der neuesten Entdeckungen zu entscheiden.
Die Gefahr einer Utopie, die a) archaische Reduktion betreibt oder
b) der totalen Machbarkeit der Dinge verfällt, ist nicht zu übersehen. Euphorie
und Horrorszenarios sind so dicht aneinander geraten, dass wir uns das erste Mal
eine ganz technisch radikale Identitätsfrage stellen müssen: Was ist der Mensch
als solcher?
Das klingt im ersten Moment irr, aber nur solange man die traditionellen Identifikationen sucht. Und nicht die evolutionären. Doch eben hier liegt vielleicht die wahre Quelle der Integration, als Findung und Bindung der Differenzen.
Unlängst hatte man in Wien im genetischen Bereich das Rätsel der stabilen Weitergabe von Zellinformationen entdeckt - als Ketten, die die Spezialisierung garantieren. Wenn Sie wollen, geht es hier um eine Art der Verpackung, die man schon im weiten Kosmos findet. Man könnte also Identität fassen als einen klugen Knoten in einem guten Netz. Identität integer und intelligent.
Sind wir Europäer aber so "verpackbar"?
Nun, mit den alten Tricks gewiss nicht. Die vorgeschlagene Identität ist als erkannte und erfasste Komplexität zu haben.
Das "Soll" kann man bei dieser Aufgabe als minutiöse Beschreibung des "Haben" definieren. Also umgekehrt als üblich. Praktisch bedeutet dies: Eine Verfassung, die aber den rechtlichen Kredit zusammenfasst und wirksam macht und die wir jetzt endlich haben. Die Inklusion als Haupttechnik der politischen Teilnahme.
Da wir keine Nation namens "Europäer" haben, soll die nationale Differenz als konstitutionelles Ethos der Inklusion angewandt werden. Eine Union ohne "Nation" als Hauptbegriff ist nicht a-national oder antinational. Sie ist nur rational.
Diejenigen, die meinen, hier trockene Angebotskonzepte bekommen zu haben, eine Spätlese der Aufklärung, übersehen die Tatsache, dass auch die Vernunft letztendlich emotional entscheidet. Und eben das Gefühl für das Richtige ist. Für das ähnlich Verknotete.
Was aber ist mit den nationalen Interessen, fragen die Moldau-Männchen. Die EU ist nur eine andere Rangliste? Na und? Wer konnte hier besser belegen – als unser heutiger Preisträger, dass man hier keine feudale Hackordnung praktiziert, sondern eine Ballkarte à la Wien, wo das eigene Tanzbein entscheidet – und kluge Augen. Es geht darum, endlich mal komparativ einen Walzer abzuliefern.
Differenz und Präferenz hängen nicht nur etymologisch zusammen. Da wir mit keinem Vorteil im Voraus rechnen können, entstehen Unterschiede als ein doch noch zusammensetzbares Puzzle, dessen Muster weiterführt und andere Bausteine sucht. So bleibt die große Einheit Kontext und Kompetenz in einem.
Einheit - also Union, wenn Sie wollen - die aber der klassischen Falle der Uniformität trotzt. Wir erinnern uns an eine kluge Theorie: dass eben ein jedes "Selbst" dazu neigt, dasselbe zu wollen. Dass das "Idem" zu einem "Totum" wird - zur totalitären Idiotie.
Totalitäre Regime benutzen die Sprache der monotheistischen Tautologie (also "Ich bin ich" und "Wir sind wir"). Doch kreative Sprache braucht Metaphern. Ein Bezug zwischen dem Schon-Benannten und dem noch Namensfreien.
Wir müssen hin - in die Polyvalenz und das Polyglotte! Dieses ist nicht ohne ein EU-Bildungssystem zu denken, dessen Merkmal Trilingualität sein sollte (also die Herkunftssprache, eine Nachbarsprache und Englisch).
Und wirtschaftlich: den EURO haben wir - im bisherigen Bereich des Machbaren ist er der erste Reim in unserem Gedicht.
Und sicherheitspolitisch sollte abschließend eine stabile euro-atlantische Partnerschaft stehen.
Die Entdeckungen im Bereich der Genetik, Nano - Technologie und der intellektuellen Robotertechnik geben heute den Ton an. Der genetische Umbau, molekulare Maschinen und "lebendige" Roboter sind eine greifbare, ja mathematisch begründbare Perspektive. Die Beschleunigung der Innovationen setzt sich dabei geometrisch, nicht arithmetisch fort. Die Biosphäre, in der wir als Wesen zu Hause waren, wird zur Neo-Sphäre, in der wir uns erst zu Hause fühlen müssen ... sollen ... wollen?
Die Identitätsfrage ist keine "klassische" mehr.
Und dennoch geben wir immer noch Antworten, als lebten wir in einer Art vorkopernikanischem Weltbild. Die Einfachheit, mit der wir unsere kollektivistische Einzigartigkeit behaupten, erinnert an den geozentrischen Stolz unserer Ahnen. Auch dieser war eigentlich bequemer und "verständlicher". Nichtsdestotrotz falsch.
Was die Identität angeht, so werden wir früher oder später die Welt der Monomanie verlassen müssen. Wir werden weniger einzigartig, aber nicht weniger wertvoll. Unsere Identität als die Bewohnbarkeit unseres kleinen Planeten? - Kein Trabant, keine Sonne. Kann man damit leben?
Man wird es lernen müssen!
Es gibt nämlich so etwas wie Identität der Integration.
Wollen Sie wissen, wie diese aussieht in natura?
Reden Sie mit Karel Schwarzenberg, hören Sie ihm zu und arbeiten Sie mit ihm an einem starken Mitteleuropa in einer Europäischen Union. Das ist ihm die schönste Gratulation.
© Jiří Gruša 2009